Die zwei Türme der Stadtpfarrkirche

Die zwei Türme der Stadtpfarrkirche

 

Was ist das Wahrzeichen der Stadt Wertingen? Man könnte hier das Schloss nennen, ebenso den Marienbrunnen auf dem Marktplatz. Bei einer Wahl zum Wertinger Wahrzeichen würden aber zweifellos die beiden Türme der Stadtpfarrkirche St. Martin den ersten Platz belegen. Sie sind unverwechselbar und prägen das Wertinger Ortsbild.

Bereits auf den ersten mittelalterlichen Stadtsiegeln aus dem 13. und 14. Jahrhundert symbolisieren sie die Stadt Wertingen. Das hat sich bis zum heutigen Tag nicht geändert: Nach wie vor schmückt die Stadtpfarrkirche mit ihren beiden markanten Türmen das Stadtwappen. Voller Stolz verkünden die Stadtführerinnen und Stadtführer bei ihren historischen Rundgängen, dass die Doppeltürme mit dem Zinnenkranz einzigartig in Deutschland, ja vielleicht sogar auf der ganzen Welt sind.

Aber warum zwei Türme? Aus guten Gründen haben sich im christlichen Kulturkreis seit der Antike Kirchtürme als nicht wegzudenkender Bestandteil von Kirchen etabliert: Weit hörbar rufen die Kirchturmglocken die Gläubigen zum Gottesdienst. Und auch als Wachtturm erfüllten sie ihren Zweck, konnte der Turmwächter doch den gesamten Ort überblicken und vor Feuer und Feinden warnen. Aber hierfür reicht ein einziger Kirchturm völlig aus.

Warum hat Wertingen, das im Rückblick auf seine Geschichte nie eine besonders vermögende Stadt war, keine Kosten und Mühe gescheut, um zwei Türme zu bauen? – Schriftliche Nachrichten über den Bau der Stadtpfarrkirche im 12./13. Jahrhundert existieren leider nicht, so dass zur Beantwortung dieser Frage spekuliert werden darf. Zwei Kirchtürme besitzen große Kathedralen wie der Kölner Dom, die Münchener Frauenkirche oder auch der Augsburger Dom. Gleiches gilt für Klosterkirchen, z. B. Ottobeuren, Roggenburg und Kloster Holzen. Mit diesen Kirchen kann sich St. Martin in Wertingen allerdings nicht vergleichen. Mitunter kann man aber auch in Kleinstädten doppeltürmige Kirchen entdecken, so etwa in Wemding und Beilngries (Landkreis Eichstätt).

In Wertingen mag der Grund für den Bau von zwei Kirchtürmen im äußeren Erscheinungsbild begründet gewesen sein: Das mittelalterliche Städtchen besaß keine beeindruckende Stadtmauer, die Stadttore waren eher unscheinbar und im Ortsbild gab es wohl kaum einen Unterschied zu einer dörflichen Siedlung. Um dennoch den städtischen Charakter zu betonen, könnte es sein, dass die Wertinger auf die Idee kamen, zwei Türme zu errichten. Dadurch unterschied sich das „Städtle“ deutlich von der Dörfern der Umgebung. Aus dem gleichen Grund erhielt die Stadtpfarrkirche wohl auch zwei Querarme, so dass insgesamt vier Seitenaltäre untergebracht werden konnten. Gewöhnliche Dorfkirchen verfügten nur über zwei Seitenaltäre. Um es mit den Worten von Alfred Sigg, dem ehemaligen Museumsreferenten und guten Kenner der Stadtgeschichte, auf den Punkt zu bringen: „Die beiden Türme sind Ausdruck des städtischen Selbstbewusstseins – oder einfacher gesagt nichts Anderes als Angeberei“.

Auf alle Fälle entwickelten sich die Doppeltürme zum unverwechselbaren Wahrzeichen Wertingens. Ein interessantes Detail am Rande: Die uns heute so vertrauten Zinnenkränze auf beiden Türmen gab es ursprünglich noch nicht. Wie man auf den mittelalterlichen Stadtsiegeln gut erkennen kann, thront auf beiden Türmen jeweils ein spitz zulaufender Helm. Erst später wurden die charakteristischen Zinnen angefügt.

Die Wertinger wollten fortan auf ihre beiden Türme nicht mehr verzichten. Als im Dreißigjährigen Krieg (1618–1648) der Südturm weitgehend zerstört wurde, während der Nordturm nur geringe Schäden davongetragen hatte, wäre dies eine Gelegenheit gewesen, auf den Wiederaufbau des Südturms zu verzichten, um auf diese Weise Kosten zu sparen. Offensichtlich kamen die Wertinger aber nicht auf diese Idee. Nur wenige Jahre nach Kriegsende wurde der zerstörte Turm wiederaufgebaut – trotz der desolaten wirtschaftlichen Situation dieser Zeit. Zudem wurde er wieder so errichtet, wie er vor dem Krieg ausgesehen hatte, d. h. mit gotischen Bauformen, die im 17. Jahrhundert vollkommen anachronistisch waren. Andernorts erhielten die Kirchtürme in dieser Zeit ein barockes Aussehen mit Zwiebelhaube. Nicht so Wertingen: Das Wahrzeichen sollte unverändert wiedererstehen.

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