Stadtgebiete und Wertingen sollen barrierefrei werden
„Die meisten Menschen könnten es einfach nicht nachvollziehen, wie es ist, behindert oder in der Mobilität eingeschränkt zu sein“, sagen Johanna Schlögl und Jens Baur. Beide wissen, wovon sie reden, denn sie sind seit vielen Jahren sogenannt gehandicapt, also behindert. Die 63 und 61 Jahre alten Wertinger leben mit ihren Familien und Ehepartnern in der Zusamstadt. Bei Schlögl diagnostizierten die Ärzte 1999 „MS“, Multiple Sklerose, eine bis heute nicht heilbare chronisch-entzündliche Krankheit, die das zentrale Nervensystem betrifft und vielfältige Probleme verursacht. „Meine Mobilität hat sich im Laufe der Jahre sukzessive verschlechtert“, sagt die ehemals ausgebildete Redakteurin. Wenn sie läuft, dann nur mit ihren beiden Walkingstöcken. Für längere Strecken sitzt sie auf ihrem motorisierten Scooter. Ein Unfall beim Skifahren im Jahr 2010 ist bei Jens Baur die Ursache für seine Querschnittslähmung. „Ich lag zwölf Tage im Koma, dann Monate in verschiedenen Krankenhäusern und mit einigen Operationen.“ Ihm sei schnell klar gewesen: „Entweder ich nehme die Situation an oder ich bleibe auf der Strecke.“ Baur entschied sich für Ersteres. Genau wie Johanna Schlögl. Wie gut das gelingt, ist allerdings viel von deren Umfeld abhängig. Denn „Behinderungen“ für Gehandicapte gibt es mehr als genug in der Welt der sogenannten „Normalen“.
Deshalb sitzen beide seit März 2020 als ReferentIn im Wertinger Stadtrat und das aus gutem Grund. Schlögl ist zuständig für das Thema Inklusion, Baur für Barrierefreiheit /Bau/Verkehr und Mobilität. Politisch sind beide lang vor Krankheit und Unfall aktiv, Schlögl in der SPD und Baur als CSU-Fraktionsmitglied. Unabhängig von Parteizugehörigkeit sei es jetzt ihre Aufgabe, Anstöße durch eigene Erfahrungen an die Stadtverantwortlichen weiterzugeben. „Wenn wir Mankos im öffentlichen Leben von Wertingen für behinderte Menschen feststellen, dann sprechen wir diese im Stadtrat, beim Ordnungsamt, in der Verwaltung oder beim Bürgermeister an.“ Ihren ersten Erfolg verzeichneten sie mit dem Umzug des Stadtrats ins Foyer der Stadthalle: „Dort ist der Zugang im Erdgeschoss barrierefrei und dort befindet sich auch eine behindertengerechte Toilette.“ Denn das Wertinger Rathaus – angesiedelt im Pappenheimer Schloss – verfügt über keinen Aufzug. Jetzt können Menschen mit Behinderungen auch den öffentlichen Teilen von Stadtratssitzungen beiwohnen. Einen Aufzug im oder am Gebäude umzusetzen sei laut Baur bautechnisch nicht so einfach, weil das Schloss unter Denkmalschutz stünde, er befände sich jedoch in Planung. Über den Einsatz von Schlögl und Baur sagt Wertingens Bürgermeister, Willy Lehmeier: „Ich finde es bemerkenswert, wie aktiv sich beide in die Kommunalpolitik einbringen. Das stärkt bei den Menschen ohne Einschränkungen ein starkes Bewusstsein für deren Alltagssituationen. Wir greifen oftmals ihre Hinweise auf und senkten unter anderem in den Gehwegbereichen Bordsteine ab. Es bleibt dennoch eine Sisyphusarbeit. Für die Barrierefreiheit für das Amtsgericht liegt uns inzwischen für den Aufzug am Gebäude die denkmalschutzrechtliche Genehmigung vor.“ Der Bauantrag sei gestellt, nun warte man auf die Genehmigung vom Landratsamt. „Dann kann die Regierung von Schwaben den Bau bewilligen und fördern“, so Lehmeier. Die Realisierung dieses Aufzugs habe man im laufenden Haushalt mit 200 000 Euro hinterlegt. In Rieblingen sei man da schon weiter: „Im Sommer 2023 errichteten wir am Eingang zum Bürgerhaus eine Rampe und konnten dort den Zugang wesentlich erleichtern.“ Auch dies sei ein Hinweis von ihm gewesen, so Baur. Er und Schlögl wollen weiterhin öffentliche Plätze, Örtlichkeiten und Gebäude prüfen, ob Veränderungen notwendig sind und wie diese am besten umzusetzen wären. Dabei haben sie die Schulen, die Zugänge zu den vielen und vielfältigen Geschäften in der Stadt, Restaurants und Cafes sowie Behindertenparkplätze, Spazier- und Gehwege im Blick. Es ist ganz offensichtlich, dass die Aufmerksamkeit der beiden noch recht lang gefragt sein wird, will man ihnen und all den übrigen Betroffenen ein Umfeld bieten, das wenigstens einen behindertengerechten Alltag ermöglicht.